Sammlung von Labor-Gefäßen mit verschiedenen Proben von Teilnehmern einer medizinischen Studie.
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Klinische Studien werden in Deutschland in der Regel an Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 70 Jahren durchgeführt.

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Teilnahme an Studien: Ärzte fordern Überarbeitung der Regelung

Kinder, Jugendliche und nicht-einwilligungsfähige Erwachsene dürfen in der Regel nicht an medizinischen Studien teilnehmen. Sie gelten als besonders schutzbedürftig. Das bremse jedoch die Entwicklung hilfreicher Medikamente, kritisieren viele Ärzte.

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Vor Olaf Witt in Heidelberg sitzen regelmäßig verzweifelte Eltern. Und manchmal kann der pädiatrische Onkologe vom Kindertumorzentrum in Heidelberg nicht so gut helfen, wie er möchte. Beispielsweise, weil ihm nicht die richtigen Medikamente zur Verfügung stehen, weil sie zuerst an Erwachsenen getestet werden müssen. Und erst später an Kindern. Der Grund: die jungen Probanden sollen vor unnötigen Risiken geschützt werden. Das schreibt unter anderem die international geltende "Helsinki Deklaration" vor. 1964 wurde sie vom Weltärztebund verabschiedet. Sie regelt, wer an medizinischen Studien teilnehmen darf. In Deutschland sind das grundsätzlich Erwachsene im Alter zwischen 18 und 70 Jahren.

Regelung bremst Neuentwicklung von Medikamenten für Kinder

Viele Ärzte betrachten diese Beschränkung zunehmend als Hürde. Dazu gehört auch der Onkologe Olaf Witt. "Wir haben festgestellt, was gut gemeint war, wird großenteils zum Nachteil für diese Kinder, weil sie beispielsweise viel später Zugang haben zu neuen Medikamenten." Im Schnitt kämen die Medikamente für Kinder sechs Jahre später auf den Markt als die für Erwachsene. Für ein Kind, das todkrank sei, keine Option mehr auf Heilung hat, wo alle Standardtherapien durchlaufen worden sind, sei das eine Zumutung, sagt der Onkologe: "Da will die Familie nicht sechs Jahre warten, bis das Kind ein neues, vielversprechendes Medikament haben kann."

Deshalb ist gerade in der Krebsbehandlung von Kindern der sogenannte "Off-Label-Use" Gang und gäbe. Das heißt: Wirkstoffe werden mit Einzelgenehmigung, auch ohne Zulassung verwendet. Ein Notbehelf. Oft genug ist es aber nicht nur nachteilig, wenn Studien mit Kindern erst lange nach denen mit erwachsenen Probanden starten, sondern regelrecht sinnlos, gerade in der Onkologie, erklärt Witts Kollege Stefan Pfister: "Die meisten Krebserkrankungen die man von Erwachsenen kennt, also Brustkrebs, Prostatakrebs, Lungenkrebs, gibt’s bei Kindern nie, und andere häufige Krebserkrankungen, wie Leukämie, Lymphome, Hirntumore und andere embryonale Tumore, gibt’s wiederum nur bei Kindern und bei Erwachsenen gar nie oder extrem selten", erklärt der Onkologe.

Nebenwirkungen bei Kindern und Erwachsenen in etwa gleich stark

Deshalb gebe es für manche Medikamente, die man speziell für Kinder testen will, gar keine sinnvolle erwachsene Probanden-Gruppe. "Man wartet dann auf ein Lungenkrebsmedikament, dass bei Erwachsenen getestet worden ist, bevor es dann bei Kindern bei einer ganz anderen Art von Krebs getestet wird, das erscheint einfach nicht sinnvoll", sagt Stefan Pfister.

Ein weiterer Punkt spricht nach Meinung der beiden Ärzte dafür, Krebs-Studien mit Kindern viel früher, parallel zu den Erwachsenen durchzuführen: Die Erfahrung zeigt, dass unerwünschte Nebenwirkungen bei Kindern nicht heftiger ausfallen als bei Erwachsenen. Dass also Kinder, vorausgesetzt natürlich, man passt die Dosis an Gewicht und Größe an, kein größeres Risiko haben.

Ethisches Dilemma zwischen Schutz und effektiver Behandlung

Was bleibt, ist das ethische Dilemma, dass die Kinder nicht selbst entscheiden können und die Eltern stellvertretend die geforderte, sogenannte "informierte Zustimmung" geben müssen. Erfahrungsgemäß sind die eher darüber verzweifelt, wenn ihr krankes Kind nicht an einer womöglich lebensrettenden Studie teilnehmen darf.

Es geht den beiden Ärzten aus dem Kindertumorzentrum Heidelberg nicht darum, die Regeln der Helsinki-Deklaration komplett über den Haufen zu werfen, sie fordern eine Differenzierung. Entscheidend sei die Schwere der Krankheit. "Bei einer harmlosen Erkrankung ist es absolut sinnvoll, nicht zuerst an Kindern zu testen", erklärt Stefan Pfister. "Aber bei jeder schweren Krankheit, die spezifisch bei Kindern vorkommt, und die mit einem hohen Risiko verbunden ist, kann es die einzige Lösung nur sein, dass man auch diesen Kindern Zugang zu Innovation gibt."

Was eigentlich als besonderer Schutz gedacht ist für vulnerable Bevölkerungsgruppen, kann in einigen Fällen schaden. Das betrifft nicht nur Kinder, sondern auch manche ältere Menschen, sagt Stefan Pfister. Patienten, die beispielsweise dement sind und daher nicht einwilligungsfähig, dürfen nicht an Studien teilnehmen und damit auch nicht vom medizinischen Fortschritt profitieren. Der Wissenschaft fehlen sie, denn: "Wir können ja nicht ein neues Medikament an einem Menschen ausprobieren, der noch gar keine Demenz hat", sagt Pfister.

Darf ein Alzheimer-Patient Teil einer Studie sein?

Aber demente, also geistig verwirrte Patienten als Teilnehmer einer medizinischen Studie? Einen "informed consent", eine informierte Zustimmung, wie es als Bedingung heißt, können sie sicher nicht mehr geben. Wie könnte eine Lösung zu diesem Dilemma aussehen? "Es gibt Überlegungen, dass jemand, der eine beginnende Erkrankung hat, bei der sich abzeichnet, dass eine Demenz entsteht, eine Vorausverfügung erstellt, um dann später an einer Studie teilnehmen zu können", erklärt Hans-Jörg Ehni. Der Medizinethiker hält das für einen wichtigen Ansatz. Auch er kritisiert die bestehenden Regeln als nur bedingt hilfreich und teils auch als diskriminierend.

In vielen Studien sei ein Alter über 65 Jahren ein Ausschlusskriterium. Doch nicht der Schutz von alten Menschen sei hierfür der Grund, "sondern eher die Überzeugung: Das ist zu kompliziert", sagt Ehni. "Das heißt, da wird pauschal eine Gruppe ausgeschlossen, ohne dass es medizinisch oder sachlich begründet ist." Weil Forschung sich verändere, so der Medizinethiker, müsse man auch die Regeln zur Forschung immer wieder anpassen.

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